Deutscher Opferweg

60 Jahre deutscher Opferweg
Gedenk-Arbeit macht frei

Von Eugen Januschke und Frank Brendle

Ganz Deutschland befreit sich vom Faschismus: Die sechzigsten Jahrestage, die in diesem Jahr anstehen, ziehen einen bislang beispiellosen Gedenk-Marathon mit sich. Veranstaltungen, Filme, Theaterstücke und bedeutungsschwangere Politikerreden handeln vom „dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte“, genauer: der Befreiung der Deutschen von eben jener finstren Zeit.

Keine Gedenk-Arbeit ohne Lohn. Das mal mehr, mal weniger deutlich ausgesprochene Ziel des Gedenkrummels lautet, das kleinlaute Volk der besiegten Täter zu einem Volk von selbstbewussten Opfern und – letztendlich – siegreichen Helden zu machen. Dieses Ziel bestimmt das Interpretationsraster, das an den Vernichtungskrieg im Osten, den „Bombenkrieg“ in der Heimat, die Invasion der Alliierten im Westen angelegt wird.

Was den Vernichtungskrieg der Wehrmacht angeht, hat die zweite Wehrmachtsausstellung Pionierarbeit geleistet. Die erste Ausstellung bezog ihre Kraft aus den vielen Bildern mit Familienalbencharakter, die einem nahe brachten, dass wohl die eigene Verwandtschaft sich nicht anders verhalten hat, als diese Männer auf den Bildern: Wehrmachtssoldaten jeden Ranges, die sich am Morden hilfloser Menschen beteiligten, daran – oder am Zuschauen – sichtlich Freude hatten und dies auf Fotos festhielten, um nach dem Krieg Kindern und Enkeln stolz zeigen zu können: Ich war dabei, als wir damals die Untermenschen beseitigten.

Die zweite Ausstellung (eröffnet 2001) nimmt dies zurück. Der gemeine Soldat ist nicht mehr erkennbar, die Bilder mussten Texten weichen. Zu sehen sind nur noch die Befehlsgeber, der sichtbare und benennbare Täterkreis schnurrt zusammen auf Hitler plus Umgebung. Ob Wehrmachtsgeneräle als Täter oder als perfide „missbrauchte“ Instrumente Hitlers gelten sollen, bleibt anheim gestellt, der kleine Soldat jedenfalls ist auf der Täterseite verschwunden. Er steht jetzt auf der Opferseite.

Zugleich wird die „Heimatfront“ von den eigenen Tätern bereinigt, um Platz für die Täter der Feinde zu machen. Die Luftangriffe der Alliierten werden zum Vernichtungskrieg erklärt. Die militärischen Ziele der Heimat, wie Rüstungsfabriken, Industrieanlagen, Verkehrsinfrastruktur verschwinden. Im alliierten „Bombenkrieg“ sei es darum gar nicht gegangen. Vielleicht ging es ja um die Auslöschung der Deutschen? Das sagt zwar bislang kaum jemand offen, unverkennbar gibt es aber einen Transfer des Vokabulars zum Holocaust auf den „Bombenkrieg“. Jörg Friedrichs 2002 veröffentlichtes Buch „Der Brand“ erklärt etwa Luftschutzkeller zu „Krematorien“, in denen die (deutschen) Opfer „vergast“ werden. Die alliierten Bomber begeben sich bei ihren Angriffen metaphorisch „zur Rampe“ und „liquidieren“ ihre – deutschen – Opfer. Ähnlich lautet der Tenor bei etlichen Doku-Filmen à la Knopp im TV: Es hat niemand so leiden müssen wie die Deutschen. Zum einen unter dem „wahnsinnigen“ Diktator, zum anderen unter den Alliierten.

Als Kanzler sagt man so was (noch) nicht. Zu den bemerkenswerten symbolischen Handlungen in diesem Gedenkjahr gehörte der Auftritt des Bundeskanzlers am D-Day, dem Tag der alliierten Landung in der Normandie. Schröder distanzierte sich in seiner Rede von der „entfesselten, unmenschlichen Waffen-SS“, als ob die Wehrmacht einen „anständigen“ Krieg geführt hätte. „Deutsche Soldaten fielen, weil sie in einen mörderischen Feldzug zur Unterdrückung Europas geschickt wurden. Doch in ihrem Tod waren alle Soldaten über die Fronten hinweg verbunden, verbunden nämlich in der Trauer ihrer Eltern und Frauen… Vor ihrer aller Schmerzen verneigen wir uns“. Tot ist tot, und Deutsche sind Opfer. Wer wird da fragen, ob die Deutschen tatsächlich nur „geschickt wurden“ oder, bevor sie von den Alliierten gestoppt wurden, vielleicht doch noch so allerlei verbrochen hatten, wozu ihr Führer sie nicht erst lange überreden brauchte.
„Politik des erhobenen Hauptes“

Parallel zu des Kanzlers Auftritt in der Normandie verkündete Heinrich-August Winkler, früher mal ein renommierter, progressiver Historiker, in der Berliner Zeitung, die wahren Befreier der Deutschen seien die Alliierten gewesen, und der Anfang der Befreiung sei in der Normandie zu verorten. Nicht von „Niederlage“, sondern von „Befreiung“ spricht der Mann, und er meint damit, dass „die Deutschen“ befreit wurden. Das setzt voraus, dass sie zuvor unterjocht worden waren und das auch selbst so empfunden haben: Opfer Hitlers eben1. „Befreit“ wurden indes nur die Westdeutschen, denn im Osten folgte ja gleich die Anschluss-Diktatur, so Winkler. In Sachen Befreiung kennt er sich ohnehin aus: kurz nach der „Wende“ wurde er aus Freiburg an die Ost-Berliner Humboldt-Uni entsandt, wo er sich umgehend daran machte, die Befreiung der davor verlaufenden Straße von ihrem Namen (Clara Zetkin) zu begründen. Die Straße ist heute wieder nach einer Preußen-Prinzessin benannt.

Die FAZ indes nannte beim Namen, was Schröder eigentlich in der Normandie zu suchen hatte: „Der Kanzler reklamiert für Deutschland den Platz in der Weltpolitik, den es sechs Jahrzehnte nach der Niederlage verdiene…. Deutschlands Rückkehr in die Weltpolitik, als selbst- und machtbewußter Akteur“. Die FAZ findet das toll, aber weil sie ein Oppositionsblatt ist, wollte sie wenigstens ein bisschen herummäkeln: Der Kanzler hätte ruhig auch ein paar gute Worte zu den toten Angehörigen der SS sagen können. Da ruht noch ein Opferpotential…

Den Tipp Heinrich August Winklers, die äußere Befreiung durch die Alliierten mit der – versuchten – inneren Befreiung durch den 20. Juli zu koppeln, setzte Schröder sofort um: „Unter dem Eindruck des alliierten Vormarsches holten die Widerstandskämpfer am 20. Juli 1944 zum vergeblichen Schlag gegen die Diktatur aus. Sie starben für ein besseres Deutschland.“
Nun hat zwar die Invasion nicht unmittelbar etwas mit dem 20. Juli zu tun, aber wenn man nur will, kann man die Offiziere des 20. Juli auch als Sympathisanten jener Befreiung betrachten, die zu vollbringen dann doch den Alliierten überlassen blieb. Die „Männer des 20. Juli“ sollen helfen, das Bild der Deutschen vom (Übel-)Täter weiter zu verdrängen. Darüber hinaus sind sie nicht nur als bloße Opfer aufzulisten, sondern als (Wohl-)Täter, als Helden, ja, als Lichtgestalten. Sie waren Feinde Hitlers, weil sie ihn umbringen wollten, und deshalb müssen sie auch Vorbilder gewesen sein, und Gegner der „Hitlerschen“ Verbrechen sowieso. Und das feiern wir jetzt jedes Jahr mit einem pompösen Gelöbnis in Berlin.

20. Juli: Nazi-Aufstand gegen Hitler

Freilich: Es wird hier dünnes Eis betreten. Die Lesart, die Verschwörer des 20. Juli seien gute Demokraten, quasi Wegbereiter des Grundgesetzes gewesen, musste schon lange aufgegeben werden. Und dass sie als „soldatische Vorbilder“ durchgehen, die nach jahrelangem inneren Ringen in einem „Aufstand des Gewissens“ geputscht haben, weil sie die Verbrechen nicht mehr ertragen konnten, ist mit dem Forschungsstand auch nicht mehr vereinbar. Vielmehr zeigen neuere Forschungen, dass die späteren Attentäter im Rahmen des Vernichtungskrieges „tadellos“ im Sinne der Führung funktioniert haben. Der gleiche General Carl-Heinrich von Stülpnagel, der am 20. Juli 1944 in Paris die SS-Mannschaften verhaften ließ, hat beim Einmarsch ins ostpolnische Galizien 1941 als Kommandant der 17. Armee angeregt, „zunächst die in den neu besetzten Gebieten wohnhaften anti-jüdisch und anti-kommunistisch eingestellten Polen zu Selbstreinigungsaktionen zu benutzen“, was hieß: sie zu Mordjagden auf Jüdinnen und Juden anzustacheln. Dem „vermehrte[n] Kampf gegen den Bolschewismus und das vor allem in seinem Sinne wirkende internationale Judentum“ galt der ganze Eifer des hitlerkritischen Generals, der verbrecherische Befehle nicht zu befolgen brauchte, weil er sie selbst erlassen hat: So etwa am 30. Juli 1941, als er anordnete, auf Sabotagefälle wie auf sich abzeichnende „passive Widerstände“, sofern die Urheber nicht sofort festgestellt werden konnten, „unverzüglich kollektive Gewaltmassnahmen“ folgen zu lassen. Zur Erschießung seien dabei „in erster Linie jüdische und kommunistische Einwohner zu nennen“.

Einer der Lieblingsattentäter der Bundeswehr ist fraglos Henning von Tresckow, nach dem gleich zwei Kasernen benannt sind. Dass Tresckow ein Jahr lang innerhalb der Heeresgruppe Mitte für die „Partisanenbekämpfung“ zuständig war und mehrfach in die Planung von Massakern involviert war, thematisiert die Bundeswehr nicht. Bei Tresckow versagt auch die bisweilen benutzte Strategie, den Attentätern einen „Lernprozess“ zuzuschreiben, demzufolge sie sich zwar anfangs „mitschuldig“ gemacht hätten, aber schließlich eine Art Läuterung durchgemacht hätten. Tresckow hatte wie nahezu alle oppositionellen Offiziere mehr taktische denn prinzipielle Abneigungen gegen Massenverbrechen. Dass er im März 1943 Hitler eine Bombe ins Flugzeug schmuggelte, hinderte ihn nicht daran, weiterhin verbrecherische Befehle zu erteilen oder anzuregen, die den tausendfachen Tod von Zivilisten zum Ziel hatten: Am 9. April 1943 schlug er dem OKH vor, „[g]rosse [sic] Waldgebiete“ müssten „vollständig evakuiert und zu Sperrgebieten für die Zivilbevölkerung erklärt werden“, um die Partisanen zu isolieren. Das hätte rund 370.000 Menschen betroffen, von denen sich mit Sicherheit etliche gewehrt hätten. Dem OKH ging dieser Vorschlag zu weit. Als Stabschef der 2. Armee beteiligte sich Tresckow an der Deportation von Zwangsarbeitern ins Reichsgebiet, und noch im April 1944 ordnete er an, dass Arbeitsfähige, die sich dem Abtransport entziehen wollten, „als bandenverdächtig anzusehen“ seien – ein faktisches Todesurteil. Auch an der Verschleppung Tausender von Kindern im Juni 1944 war Tresckow beteiligt.

Dass die Attentäter im Wesentlichen die militärische Niederlage Deutschlands vermeiden und aus diesem Grund Hitler umbringen wollten und viele – aber nicht alle – Massenverbrechen unterstützten, kann heute jeder wissen. Die Bundeswehr will es nicht wissen, und diejenigen Staatsoberhäupter, die zur Ansprache beim Berliner Gelöbnis erscheinen, drücken beide Augen zu.
So dürfen auch die Deutschen ihre Befreiungskämpfer feiern und „auf gleicher Augenhöhe“ neben den einstigen Siegern stehen. Das heißt, auch gleichberechtigt mit den anderen – westlichen – Mächten die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, wenn erforderlich durch Krieg. Die Entlastung von einem als beklemmend empfundenen Geschichtsbewusstsein macht Deutschland frei als neuer selbstbewusster Akteur im Weltmaßstab.

Die Autoren arbeiten im LV Berlin-Brandenburg der DFG-VK.
Es handelt sich um einen Vorabdruck der Zivilcourage 4/2004